Interview
der Fellbacher Zeitung mit Sven Giegold MdEP, vom 13.02.2017
Eva
Herschmann (FZ): Der Brexit der Briten naht, und in einigen weiteren
Ländern gibt es lautstarke Stimmen, die den Separatismus fordern.
Ist Europa überhaupt noch zu retten, und wenn ja, wie?
Sven Giegold: Wir müssen Europa retten, weil wir nur mit der EU
die Probleme lösen, vor denen die Weltgemeinschaft steht. Die
europäischen Länder können angesichts der Dynamik der
Globalisierung und Digitalisierung nur gemeinsam für ihre Ziele
einstehen. Aus den Krisen der letzten Monate und Jahre haben wir
gelernt, dass das reine Bekenntnis zu mehr Europa zu wenig ist. Wir
Grüne sagen deswegen “Ja zu Europa” und zwar auch zu
diesem Europa, aber wir brauchen auch den Mut zur Veränderung. Wir
kämpfen für die Stärkung der europäischen
Demokratie. Wir wollen, dass Europa nachhaltiger, solidarischer,
gerechter und verantwortungsvoller gegenüber der Welt und
gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern wird.
(EH):
In Europa sind die Rechtspopulisten wiedererstarkt. Worin sehen Sie die
Hauptursachen für den großen Zulauf, den Marie Le Pen in
Frankreich, Geert Wilders in Holland oder die AfD in Deutschland haben?
(SG): Viele Menschen sind enttäuscht über die sich
aufhäufenden Probleme und gewachsenen Unsicherheiten. Die sozialen
Spaltungen nehmen zu. Manche Regionen bleiben im schärferen
internationalen Wettbewerb zurück, andere entwickeln sich
prächtig. Die Unterschiede zwischen der Durchschnittsverdienern
und den Vermögenden nehmen zu. Auch rund um Europa kommt die Welt
nicht zur Ruhe. Auf diese Krisen bieten Populisten einfache Antworten.
Doch die Renationalisierung löst kein Problem, sondern sie macht
die Lösungen unmöglich. Wir brauchen nicht weniger Europa,
sondern mehr Demokratie, mehr sozialen Ausgleich und
Zukunftsinvestitionen sowie eine gemeinsame Außenpolitik Europas.
(EH): Was
können die demokratischen Regierungen gegen Rechtspopulisten und
rechtsnationale Tendenzen tun?
(SG): In den
letzten Jahren haben die Mitgliedstaaten häufig das Muster
verfolgt, Erfolge für sich zu verbuchen und Probleme zu
europäisieren. Wenn irgendetwas nicht lief, war schnell
Brüssel schuld. Die EU darf nicht länger Sündenbock
für das Versagen nationaler Politik sein. Aber sie muss auch
eigenen Reformwillen zu erkennen geben. Die Menschen müssen sehen,
was sie von einer starken europäischen Union haben, beispielsweise
durch einen beherzten gemeinsamen Klimaschutz oder auch durch ein
abgestimmtes Vorgehen gegen Steuerbetrug und Steuerdumping. Die
Wettbewerbskommissarin Margrete Vestager zeigt mit ihrem strikten
Vorgehen gegen Amazon & Co, was Europa kann, wenn es sich auf seine
Stärken besinnt.
(EH): Europa
ist schnell gewachsen. Manche Länder, beispielsweise Ungarn und
Polen, scheinen die Demokratie noch nicht wirklich verinnerlicht zu
haben. Was kann das Europaparlament gegen autokratische Bestrebungen
tun?
(SG): Wir
diskutieren öffentlich über die prekäre Lage in diesen
Ländern. Es ist wichtig, dass wir die Bürgerinnen und
Bürger unterstützen, die für Rechtsstaatlichkeit,
Demokratie und gegen Korruption auf die Straße gehen. Die
Demonstrationen in Rumänien und Polen machen großen Mut,
denn viele Menschen dort wollen Europa und seine Werte. Diese
Aktivitäten der Zivilgesellschaft können wir
unterstützen. Deshalb ist es peinlich, wenn Sozialdemokraten und
Liberale über die Korruption in Rumänien schweigen und
Christdemokraten bei Orban in Ungarn betreten zu Boden schauen. Wir
dürfen auch unsere Parteifreunde in anderen Ländern nicht
schonen, wenn Grundrechte verletzt werden.
(EH): Wie
beurteilen Sie die Wahl von Donald Trump in den USA und welche
Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft sehen oder
fürchten Sie?
(SG): Ich bin
genauso schockiert von den Entwicklungen in den USA wie fast alle hier.
Was wir da hinsichtlich der Justiz oder beim Umgang mit Medien gesehen
haben, lässt Übles erahnen. Aber wir sollten jetzt nicht den
Kopf in den Sand stecken. Hunderttausende sind vor einigen Wochen bei
den “Women’s Marches” auf die Straße gegangen.
Es bilden sich völlig neue zilvilgesellschaftliche Bündnisse,
die sich dem Irrsinn entgegenstellen. Diese Menschen sind jetzt unsere
Ansprechpartner und haben unsere Unterstützung verdient. Was die
Wirtschaft angeht: Die Drohungen des neuen US-Präsidenten Trump in
der Handelspolitik sind brandgefährlich. Neuer Protektionismus
nützt kurzfristig der eigenen Wirtschaft, führt aber zu
Gegenmaßnahmen der Handelspartner, so dass am Ende alle
Beteiligten verlieren. Mexiko, Kanada und die pazifischen
Handelspartner der USA müssen nun entscheiden, wie sie auf Trumps
neue Politik reagieren sollen. Für Europa kann dies auch eine
Chance sein, zu Handelsverträgen zu kommen, die nicht einseitig
den Profitinteressen der großen Konzerne dienen.
(EH): Sie
sind Attac-Mitglied und damit Globalisierungskritiker. Trump ist, wie
Sie, ein ausgemachter Gegner von TTIP. Was würde es für die
deutsche Wirtschaft bedeuten, wenn TTIP nicht kommt?
(SG): Nur, weil
auch Trump - zumal aus völlig anderen Motiven - ein TTIP-Gegner
ist, ist die Kritik an TTIP nicht falsch. Der wirtschaftliche Nutzen
eines Freihandelsabkommens mit den USA ist vergleichsweise gering. Um
0,5% steigt nach 10 Jahren die Wirtschaftsleistung in der EU, wenn man
den optimistischen Schätzungen des Münchner IFO-Instituts
unter damaliger Leitung von Hans-Werner Sinn glaubt. Natürlich
erleichtert TTIP Exporte, es bedeutet aber auch schärferen
Wettbewerb für hiesige Unternehmen. Unter dem Strich bleiben nur
diese 0,5% und liegen im Rahmen der konjunkturellen Schwankungen.
Für Deutschland gilt zudem: Viele kleine und mittelständische
Unternehmen haben sich deutlich gegen diese Handelsabkommen gestellt,
weil sie einseitig den großen, transnationalen Konzernen nutzen.
Diese Unternehmen sind aber die Herzkammer unserer Ökonomie.
(EH): Würde
das mögliche Ende von TTIP Auswirkungen auf CETA, dem
Freihandelsabkommen mit Kanada, haben?
(SG): Ich lese
immer wieder, dass wir Grünen unsere kritische Haltung zu CETA
angesichts der Abschottungsdrohungen des neuen US-Präsidenten
Trump überdenken sollten. Mit Trump für CETA zu
argumentieren, ist nachgerade absurd. Denn die Wahl Trumps geht genau
auf die soziale Spaltung zurück, die die Globalisierung der
Märkte ohne starke soziale und ökologische Standards
mitproduziert hat. TTIP, CETA & Co. folgen der gleichen Logik wie
die bestehende Handelsordnung. Die Märkte für
Dienstleistungen, Investitionen und Güter werden weiter
geöffnet, ohne gleichzeitig starke soziale und ökologische
Standards zu setzen. Die Marktöffnungen werden vor Sondergerichten
für Großunternehmen durchsetzbar, während
Menschenrechtsverletzungen und Naturzerstörungen durch Investoren
weiter ungestraft bleiben. Diesem miesen Deal zuzustimmen wäre ein
unverzeihlicher Fehler der ungenutzten Chance. Denn jetzt besteht die
Möglichkeit für Europa, mit den von Trump enttäuschten
Staaten Handelsverträge zu verhandeln, die Marktöffnungen
tatsächlich mit starken sozialen und ökologischen Regeln
verbinden.
(EH): In
Baden-Württemberg sind die Grünen nun schon fast sechs Jahre
an der Regierung. Sind Sie mit der bisherigen Arbeit von
Ministerpräsident Kretschmann und seinem Kabinett zufrieden?
(SG): Winfried
Kretschmann und die Grünen haben in Baden-Württemberg viel
erreicht und den ökologischen Umbau entschieden vorangetrieben.
Sie sind von den Wählern deshalb zu Recht beauftragt worden,
weitere fünf Jahre zu regieren. Ich schätze Winfried
Kretschmann auch persönlich, so haben wir ein gemeinsames Papier
zur Religionspolitik verfasst. Wenn Ministerpräsident Kretschmann
und seine Regierung jetzt noch im Bundesrat CETA aufhalten, bin ich
sehr zufrieden! In der neuen Koalition wird es sicher nicht leichter,
Konsens zu finden.